Die kurdisch-syrische Lyrikerin und Autorin Widad Nabi ist in Kobani in Syrien geboren und in Aleppo aufgewachsen. Sie lebt heute in Berlin-Charlottenburg, einem sogenannten schicken Viertel - und hat sich umgesehen.
Kindheit in Aleppo, heute Wohnen am Schloss
Ich wohne in Charlottenburg in der Nähe des Schlosses. Ich habe viel darüber nachgedacht, was ich über meinen Lieblingsort in diesem schicken Berliner Stadtviertel schreiben kann, ich, die ich meine Kindheit in den Armenvierteln Aleppos verbrachte, wo sich der Schweißgeruch der Menschen mit dem Gestank von Urin und Abfall mischte, mit dem Duft von frischem Brot der Bäckereien in jeder Straße. Hier in dieser bürgerlichen Umgebung ist meine Perspektive eine andere.
Heute Morgen sieht Berlin aus wie in strenger Quarantäne. Straßen und Haltestellen sind nahezu leer. Die Berliner Bettler, die mich an die Mittellosen in den Armenvierteln Aleppos erinnern, sehe ich seit Beginn der Kontaktsperre kaum noch. Es ist die Zeit der Seuche, alles ist anders. Sogar mein Blick auf diesen Ort und die Straßen, auf die Geschichte und das Gedächtnis hat sich verändert. Ich rieche in den Straßen Berlins keinen Schweiß mehr, kein Bier und keine Currywurst. Berlin ist eine andere Stadt.
Wenn ich mich vor der Pandemie mit meinen Freunden verabredete, trafen wir uns gewöhnlich in Kreuzberg oder Prenzlauer Berg, denn wenn ich sagte, ich wohne in Charlottenburg, war die Reaktion: »Oh, dieses bourgeoise Reichenviertel.«
Tatsächlich ist mir in den zwei Jahren, in denen mein Partner und ich dort wohnen, kein einziges Mal aufgefallen, dass wir in einem Reichenviertel leben. Wir wohnen am Klausenerplatz, einem schönen Stadtviertel mit zahlreichen kleinen Geschäften und Ausstellungsräumen, mit Kindergärten, Eisdielen und Restaurants. Viele Künstler leben hier, Schriftsteller, Maler, Musiker. Doch die meisten von ihnen sind eher mittellos, und dass sie in den noblen Häusern wohnen, ist lediglich den alten preiswerten Mieten zu verdanken.
Im Kiez wird mehr gepflanzt und miteinander geplaudert
Nachdem Corona in unser Leben getreten war, blieben meinem Partner und mir kein anderer Ort zum Schlendern. Bei unseren täglichen Spaziergängen durch die Straßen um den Klausenerplatz fielen mir einige Details auf, die ich früher nicht gesehen hatte. Die Bewohner des Kiezes pflegen nun einen engeren Umgang miteinander, sie sitzen vor den Hauseingängen, schauen ihren ausgelassenen Kindern zu und plaudern mit den vorbeikommenden Nachbarn. Sie kümmern sich um die Grünflächen zwischen den Gebäuden und gießen die Hyazinthen, das Tränende Herz, die Margeriten und die Narzissen, so dass diese Flächen jetzt wie kleine Paradiese aussehen. Sie kaufen Eis und erzählen sich Witze, während sie mit der nötigen Distanz in einer langen Schlange stehen. Sie halten das social distancing ein, aber etwas in ihrem Verhalten ist anders als früher. Trotz der Distanz scheinen sie mir menschlich wärmer als früher zu sein. Als hätte Corona etwas in ihnen verändert, dessen sie sich nicht bewusst gewesen waren. Als hätte die ihnen auferlegte Distanz ihnen die Fähigkeit gegeben, etwas zu berühren, was sie in ihrem Leben und ihren Beziehungen gar nicht vermisst hatten.
Die Menschen sind solidarisch und hilfsbereit
Vor ein paar Wochen sah ich in der Nehringstraße, in der ich wohne, ein Kind, das einem anderen Kind im gegenüberliegenden Haus ein Päckchen zukommen ließ. Der Junge hatte zwischen den beiden Balkonen eine Schnur gespannt und dann so an der Schnur gezogen, dass das Päckchen zu seinem Freund gelangte. Die Väter standen unterstützend dabei, und auch einige Bewohner des Viertels sahen dem gelungenen und erfindungsreichen Postaustausch der beiden Kinder zu. Als das Päckchen seinen Empfänger erreichte, klatschten wir. Die schwierige Operation war in Corona-Zeiten ohne Berührung und unter Einhaltung einer Distanz von dutzenden Metern über die Bühne gegangen. Es war die Liebe der Kinder gewesen, die das Ankommen des Päckchens ermöglicht hatte, während - Corona zum Trotz - auch die Freundschaft in dem Zwischenraum zwischen den beiden Gebäuden wuchs.
Wir spazierten weiter zum sogenannten Ziegenhof, einem Innenhof, in dem sechs Ziegen und einige Hühner hausen. Die fast bourgeoise anmutenden Ziegen, die zugleich etwas verlottert wirken, machen alle Besucher des Hofes und besonders die Kinder glücklich. Dieser schöne kleine Stadtbauernhof hat dank der Initiative der Bewohner des Viertels überdauert, weil sie ihn in den achtziger Jahren, als er vom Abriss bedroht war, nicht aufgegeben haben.
Man könnte sagen, dass dies ein Ausdruck gesellschaftlicher Solidarität ist, der bis in die neue Welt reicht, in der sich weiterhin Freiwillige um Hof und Pflanzen kümmern und die Ziegen und Hühner versorgen.
Bei meinem täglichen Spaziergang durch das Viertel fiel mir auch auf, dass auch mein Blick auf die Zeit sich durch Corona verändert hat. Als wäre sie jetzt dichter, intensiver, genau wie die gleißende Aprilsonne, die jetzt am Himmel unseres Viertels steht und es ermöglicht, das silbrige Leuchten auf den Blättern der Pappeln zu beobachten, die in der Corona-Abschottung in aller Ruhe vor sich hinwachsen.
Kürzlich blieb ich bei einem meiner täglichen Spaziergänge vor dem Haus Neufertstraße 13 stehen, dass in den achtziger Jahren neben fünfzehn anderen Häusern am Klausenerplatz besetzt gewesen war. Die Farben des Regenbogens sind noch immer auf der Fassade sichtbar. Ich vermeinte, die vergangenen Stimmen der früheren Bewohner zu hören, die mir etwas über die achtziger Jahre erzählten, über die Träume der damaligen Hausbesetzer. Sie hatten gegen gesetzte Grenzen rebelliert, gegen starre Gesetze und den Kapitalismus und von einem freien und solidarischeren Leben geträumt. In jener Zeit war jeder Gedanke an eine Pandemie weit, es war die Zeit von Revolutionen und Unruhen, von Rebellionen und der Studentenbewegungen. Alles war in Bewegung und im Wandel. Genau wie heute. So wie sich durch Corona die zwischenmenschlichen Beziehungen und die wirtschaftlichen und politischen Gegebenheiten verändern, so veränderte die damalige Hausbesetzerbewegung die Geschichte unseres Viertels.
Als ich in der Danckelmannstraße an den Gebäuden mit den Hausnummern 43, 44 und 15 vorbeiging, die gleichfalls in den achtziger Jahren besetzt waren, kam mir in den Sinn, dass die Hausbesetzerbewegung in der Geschichte von Städten wie Berlin, Amsterdam und anderen unbedingt im kollektiven Gedächtnis der Bewohner erhalten bleiben muss, weil sie der wirksamste Ausdruck von Auflehnung und Solidarität war.
Der Duft der Fliederblüten in Zeiten von Corona
In unserem Berliner Stadtviertel stehen zahlreiche Fliederbäume. Ihre violetten, rosafarbenen und weißen Blüten erfüllen die Straßen mit einem wundervollen intensiven Duft. Den deutschen Namen dieser Bäume habe ich zum ersten Mal von meiner Freundin Annett Gröschner gehört. Als wir letztes Jahr am Bahnhof Prenzlauer Berg standen, erzählte sie mir, dass der Flieder ihre Lieblingspflanze des Frühlings ist. Nun habe ich mich wegen der Corona-Quarantäne schon lange nicht mehr mit Annett treffen können und war auch nicht mehr im Prenzlauer Berg, aber als ich die Fliederbäume in unserem Viertel und im nahegelegenen Park des Charlottenburger Schlosses sah, musste ich daran denken, wie Annett mit zarter Stimme über die Fliederblüten gesprochen hatte.
Manchmal bauen wir Häuser und Heimaten und Zufluchtsorte, aber in Wirklichkeit leben wir in den Erinnerungen der Dinge und Menschen, die wir lieben und die uns lieben. Genau wie der Duft der Fliederblüten in den Zeiten von Corona.
Aus dem Arabischen von Larissa Bender.
Die kurdisch-syrische Lyrikerin und Autorin Widad Nabi ist in Kobani in Syrien geboren und in Aleppo aufgewachsen. Sie lebt heute in Berlin und ist mitbeteiligt an Weiter schreiben.
Über die Kolumne:
Berlin ist eine Arche. Menschen aus den verschiedensten Ländern sind in die Stadt gekommen, auf der Flucht vor unerträglichen Verhältnissen, homophoben Kleinstädten, Krieg und politischer Verfolgung oder weil sie hier einfach nur leben oder studieren wollen bzw. Arbeit gefunden haben. Berliner:innen sind so vielfältig wie ihre Herkünfte. So entstanden und entstehen in der Stadt die verschiedensten Communitys, manche abgeschottet, andere offen. Durch die Coronakrise kommt uns derzeit das laute, Tag und Nacht lebendige Berlin wie ein Ort aus ferner Zeit vor.
In der Kolumne, die in den nächsten Wochen immer donnerstags hier veröffentlicht wird, erzählen Frauen über ihr Berlin und wie sich ihr Verhältnis während des Lockdowns und der Zeit danach zur Stadt und speziell zu ihren Lieblingsorten verändert. Die Schriftstellerin Annett Gröschner kuratiert gemeinsam mit Annette Maennel die Reihe.