Die Entstehung von Bedeutung
Auf die Frage, was hinter Aussagen wie: „Es war nicht so gemeint, ich bin nicht rassistisch.“ steckt, die wir alle schon einmal gehört und vielleicht auch schon gesagt haben, antwortete Quynh Anh Le ngoc in unserem Online-Gespräch vom 15.11.2022, dass diese Aussagen bestimmt ehrlich gemeint seien. Sie fußen jedoch auf der Annahme, dass so wie ich die Welt wahrnehme, es auch alle anderen Menschen tun. Und das ist ein Irrtum.
Jeder Mensch nimmt die Welt oder eine bestimmte Situation, individuell wahr. Daraus resultiert, dass wir in der gleichen Situation auch anders behandelt werden. Wir drei, die wir heute dieses Gespräch führen, werden unterschiedlich wahrgenommen, ein Weißer Mann zum Beispiel wird auch anders wahrgenommen. Der Punkt ist, es gibt sehr viele unterschiedliche Lebensrealitäten.
Das ist der Schlüssel, so Quynh Anh Le ngoc. Sie stellte in unserem gemeinsamen Gespräch das semiotische Dreieck als erklärendes Modell für die Entstehung von Bedeutung vor. Das semiotischeDreieck kommt aus der Sprachwissenschaft und beschreibt, dass ein Wort, zum Beispiel das Wort „Baum“, aus drei Teilen besteht: Der erste Teil besteht aus der Bezeichnung, das ist die Aneinanderreihung der Buchstaben „B A U M“, ausgesprochen „Baum“. Der zweite Teil ist die Bedeutung: Wenn ein Mensch das Wort „Baum“ hört, dann hat dieser Mensch eine Vorstellung von einem Baum, ein inneres Bild das durch seine Erinnerungen, seinen Erfahrungen und Gefühlen entsteht. Der dritte Teil ist das Bezeichnete, das Objekt, der Baum, den ich anfassen kann.
Dadurch erklärt sich, dass ein Wort unterschiedliche Bedeutungen haben kann, ganz unabhängig was damit gemeint wird. Und das gilt für alle Worte, auch für rassistische Worte und Bezeichnungen. Entscheidend ist die Bedeutung, das, was in unserem Kopf aufploppt.
Quynh Anh Le ngoc erklärte an ihrem eigenen Beispiel: „Wenn ich ein rassistisches Wort höre, dann ploppen in meinem Kopf ganz viele Situationen auf, die sehr schmerzhaft für mich waren, in denen ich damit abwertend bezeichnet wurde. Wenn aber eine Person, die nie Rassismuserfahrungen machen musste, das Wort hört, dann hat diese Person ganz andere Bilder im Kopf, weil sie andere Erfahrungen damit gemacht hat. Die denkt vielleicht dann an den Zeitungsartikel, in dem das Wort auch stand oder an die Arbeitskollegin, die dieses Wort ganz selbstverständlich benutzt hat.“
Ein und dasselbe Wort löst also in unterschiedlichen Menschen unterschiedliche Gefühle, Erfahrungen und Erinnerungen aus. Die können negativ oder positiv sein, je nachdem wie deine Umwelt ist und wie sie dich behandelt.
„Es war nicht so gemeint, ich bin nicht rassistisch - Das glaube ich den Menschen.“, so Quynh Anh Le ngoc, doch sie und wir alle müssen uns immer wieder vor Augen halten: meine Lebensrealität ist nicht deine. Dass es nicht so gemeint war, ändert nichts daran, dass der Inhalt Rassismus transportiert, und dass es Erfahrungen, Erinnerungen, Gefühle auslöst, die Du als Sprecher*in nicht beeinflussen kannst.