„Liberaler, aber dennoch tabuisiert“

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Robert-Havemann-Gesellschaft/GZ-UFV 219
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Aufruf zu einer Demonstration gegen den §218 am 16. Juni 1990

Katja Krolzik-Matthei, wenn wir über reproduktive Rechte in der DDR sprechen, dann heißt es oft, dass dort Abtreibungen ja – im Gegensatz zur BRD – legal waren.

Katja Krolzik-Matthei:  Sie haben gerade schon gesagt, es heißt oft „in der DDR war Abtreibung legal“. Hier zeigt sich bereits eine Verschiebung der Wahrnehmung des Komplexes „Abtreibung in der DDR“. Es war nämlich nicht durchgängig in der DDR legal, eine Schwangerschaft abzubrechen. Die Gesetzgebung hat sich über die 40 Jahre durchaus immer wieder gewandelt.

Wie war die Gesetzeslage denn genau und wie hat sie sich über die Zeit verändert?

Am Ende des Zweiten Weltkrieges wurden die Paragraphen 218, 219a StGB in der sowjetischen Besatzungszone außer Kraft gesetzt. Dieses waren im Nationalsozialismus ja sogar noch verschärft worden waren. Damit gab es für eine kurze Zeit einen quasi rechtsfreien Raum in Bezug auf Schwangerschaftsabbrüche.

Nach und nach wurden jedoch länderspezifische Regelungen geschaffen. Die Bestimmungen der Länder sahen unterschiedliche Regelungen und Indikationen vor, nach denen Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen werden konnten. Das waren vor allem medizinische Indikationen, die so wie heute auch auf Leib und Leben der schwangeren Person abzielten. Bei Gefährdung von Leib und Leben der schwangeren Person durch Schwangerschaft oder Geburt, sowie Gefährdung des Lebens des ungeborenen Kindes, konnte eine Schwangerschaft abgebrochen werden. Daneben bestand es eine sogenannte ethische Indikation, dies entspricht der heutigen kriminologischen Indikation. Ein Schwangerschaftsabbruch nach einer Vergewaltigung war somit straffrei. Zudem gab es eine soziale Indikation, die sich zwar auf die individuelle soziale Lage der schwangeren Person bezog, aber im Prinzip die gesamtgesellschaftliche Situation im Blick hatte.

Auch wenn die Landesregelungen leicht voneinander abwichen, Schwangerschaftsabbrüche waren insgesamt relativ breit möglich. Soziale Notlagen wie Armut und alleinstehende Elternschaft waren weit verbreitet nach Kriegsende Es bestand schlicht die Notwendigkeit, Schwangerschaftsabbrüche zu ermöglichen. Warum ich dies so betone ist, dass diese vergleichsweise „liberale“ Handhabung von Abbrüchen nicht unbedingt getragen waren von einer politischen Idee, sondern schlicht der Tatsache geschuldet, dass die Bevölkerung zu der Zeit nicht ernährt werden konnte. Deswegen hatten Abbrüche von Schwangerschaften, die ohnehin nicht gewollt waren, auch einen gesamtgesellschaftlichen Nutzen.

Das änderte sich mit der Zeit. Anfang der 50er Jahre hatte sich die soziale Situation ein Stück weit stabilisiert. Damit gab es auch eine andere Sicht der DDR-Regierung auf Schwangerschaftsabbrüche. 1950 trat das „Gesetz über den Mutter-und-Kinderschutz und die Rechte der Frau“ in Kraft. Unter anderem beinhaltete das Gesetz strikte Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch. Vorgesehen war nun nur noch eine medizinische und eine sogenannte erbmedizinische Indikation. Eine soziale Indikation war nicht mehr vorgesehen. Das Ziel war somit ein pronatalistisches: Wachstum der Bevölkerung zum Ausbau eines sozialistischen Staates.

Also am Ende auch eine Bevölkerungspolitik…

Katja Krolzik-Matthei: Auf jeden Fall. Bevölkerungspolitische Ideen durchziehen immer die Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch. In der DDR hat es verschiedene Ansätze gegeben, unmittelbar nach dem Krieg wollte man ein Bevölkerungswachstum möglichst vermeiden, später wollte man für ein Anwachsen der Bevölkerung sorgen, so dass die Möglichkeiten von Schwangerschaftsabbrüchen eingegrenzt wurden.

Schwangerschaftsabbrüche konnten nach 1950 nur noch auf Antrag der schwangeren Person stattfinden, dieser wurde dann von einer Kommission geprüft. Mitte der 60er Jahre gab es dann eine Auseinandersetzung– Diskussion ist zu viel gesagt –auf politischer Regierungsebene über das Thema. Auslöser war eine nennenswerte Anzahl von Selbstabbrüchen, sprich illegalen Abbrüchen, teils mit gesundheitsschädlichen und lebensgefährlichen Folgen. Die Ausführungsbestimmungen wurden darauf dahingehend verändert, dass die medizinische Indikation konnte ab da auch als sozial-medizinische ausgelegt werden. Die Kommission sollte und konnte folglich die soziale Situation der Antragstellerin mitberücksichtigen. Die politische Losung lautete jedoch weiterhin Bevölkerungswachstum. Eine Freigabe der Abtreibung oder des Schwangerschaftsabbruchs war nicht angedacht.

Man kann sagen, dass 1972 das „Gesetz zur Unterbrechung einer Schwangerschaft“ relativ überraschend in Kraft trat – eine Debatte war dem Gesetz nicht vorausgegangen. Die Neuerung ermöglichte den Abbruch innerhalb der ersten zwölf Wochen ohne Angabe von Gründen. Somit konnten Frauen selbst entscheiden, ob sie eine Schwangerschaft abbrechen oder austragen wollten. Gleichzeitig gewährleistete ein dichtes medizinisches Versorgungsnetz, dass die Abbrüche auch durchgeführt werden konnten.  

Sie haben gerade erwähnt, dass das Gesetz quasi ohne Debatten kam. Gab es denn einen gesellschaftlichen Diskurs in der DDR über das Thema Abtreibung oder insgesamt sexuelle Selbstbestimmung?

Katja Krolzik-Matthei: Ja und Nein. Nach Verabschiedung des Gesetzes gab es kritische Stimmen aus kirchlichen Kreisen. Es war ja das einzige im Parlament verabschiedete Gesetz, bei dem es Gegenstimmen gab – etwas, was sonst in der DDR nicht vorgesehen war.

Man könnte wahrscheinlich die parteipolitische Propaganda als Diskursstrang bezeichnen. Im Zentralorgan der SED, dem „Neuen Deutschland“ wurde anlässlich der Verabschiedung des Gesetztes und in den Folgejahren jährlich zum 8. März, dem Frauentag, ein bestimmtes Narrativ verbreitet und wiederholt: dass die Gleichberechtigung der Frau in der DDR erreicht wäre, was sich auch daran zeigen würde, dass die Frauen in der DDR selbst darüber entscheiden können, ob sie eine Schwangerschaft austragen oder nicht. Aber einen Diskurs im Sinne eines Austausches von Meinungen im öffentlichen Raum hat es nicht gegeben, weil ein freier Diskussionsraum in der DDR gar nicht existieren durfte. 

Eine Beschäftigung mit dem Thema oder überhaupt die Möglichkeit, sich öffentlich damit zu befassen, ist erst in den 80er Jahren entstanden, mit Beginn der Bürger*innenrechtsbewegung. In dieser Zeit bildeten sich auch unabhängige Frauengruppen. Diese Gruppen haben sich im weitesten Sinne mit reproduktiven Themen auseinandergesetzt: mit Fragen von Familienplanung, Frau-Sein und Mutter-Sein. Aber einen gesellschaftlichen Diskurs zum Schwangerschaftsabbruch hat es in der DDR nicht gegeben.

 

Wie war es dann nach 1990? In Ostdeutschland galt bis 1992 ja noch die DDR-Regelung und dann gab es 1995 mit der Neuregelung der Fristenlösung eigentlich eine schlechtere Lösung, weil Abtreibungen weiterhin kriminalisiert wurden. Gab es da eine Auseinandersetzung?

Katja Krolzik-Matthei: Bereits Ende der 80er Jahre diskutierten der Unabhängige Frauenverband (UFV) und andere autonome Frauengruppen die Möglichkeit, dass im Falle einer Wiedervereinigung die westdeutschen Regelungen für die gesamte neue Bundesrepublik in Kraft treten könnten. Diese Debatte fand zunächst unabhängig von der westdeutschen Frauenbewegung statt. Interessant ist dabei, dass nicht Abtreibung an sich, die Bedingungen des Abbruchs oder die Erfahrungen thematisiert wurden, sondern die mögliche Re-Kriminalisierung von Abtreibungen. Das hat zu einer Mobilisierung geführt, die zu einem wesentlicher Motor war für den gemeinsamen Kampf von Frauenbewegungen aus Ost- und Westdeutschland Anfang der 90er Jahre. 1994 gab es zum Beispiel einen großen gesamtdeutschen Frauenstreik zum 8. März. Diese starke Mobilisierung hielt an bis dann Letzen Endes die Kompromiss-Gesetzgebung, wie wir sie heute haben, verabschiedet wurde Die Energien der ostdeutschen Frauenbewegung und ihrer Akteur*innen flossen dann in verstärkt in Institutionalisierungs- und Verstetigungsbemühungen.

Daran anknüpfend: Haben Sie das Gefühl, dass diese Erfahrung oder auch die Regelung, die es in der DDR ab 1972 gab, heute noch in der Diskussion um §§ 218 219a eine Rolle spielt?

Es scheint mir, dass es die Personen geben muss, die die Hand heben und sagen: „Ja Moment, also es war auch schonmal anders. Es hat in der DDR auch schonmal eine andere Regelung gegeben“. Es bedarf da einer Erinnerungsarbeit, das Wissen muss aufgerufen werden. Erschwert wird das dadurch, dass in der DDR nicht alles so liberal war. Die DDR war ein zentralistischer, totalitärer Staat. Auch Schwangerschaftsabbrüche waren dort nicht einfach liberal geregelt, sondern hatten einen bevölkerungspolitischen Hintergrund. Die Legalisierung hat auch nicht dazu geführt, dass das Sprechen über Abtreibungen normalisiert war. Die Praxis selber war weiterhin stigmatisiert und auch tabuisiert. Das hat das Gesetz nicht verhindert und das war von der DDR-Regierung auch gar nicht gewollt. Insofern ist es eben auch eine vielschichtige Bezugnahme, die noch viel stärker der Aufarbeitung bedürfte.

Katja Krolzik-Matthei (Dipl. Sozialdpädagogin, M.A. Angewandte Sexualwissenschaft) forscht und lehrt seit 2014 an der Hochschule Merseburg. ForschungsschwerpunkteSexuelle und reproduktive Gesundheit und Gerechtigkeit; Diskursivierungen von Abtreibung.